Friedrich Castelles "Geistiges Leben auf Haus Welbergen"
1994; Heinrich Kleinerüschkamp
Nachtrag zu A. Bender, Dr. phil. F.Castelle in Heimatblätter Heft 3
Die in den "Ochtruper Heimatblättern" veröffentlichte, lesenswerte Würdigung und Lebensbeschreibung des westfälischen Heimatdichters Friedrich Castelle (1879 - 1954), der als Welberger Mitbürger in den dreißiger Jahren auf Haus Welbergen gewohnt hat, ist Anlass, auf einen seiner Aufsätze hinzuweisen, der heimatgeschichtlich für die Stadt Ochtrup (und Umgebung) besonders interessant sein dürfte: GEISTIGES LEBEN AUF HAUS WELBERGEN².
Mit grosser Achtung und Sympathie berichtet Castelle in diesem Beitrag über das Leben eines Mannes, der ca. 150 Jahre vor ihm auf dem von seinen Voreltern ererbten Haus Welbergen gelebt und gewirkt hat: Franz Kasper Buchholz (1759 - 1812) und dessen väterlichen Freund und Lehrer, den "weisen Mann aus Königsberg" JOHANN GEORG HAMANN (1730 - 1788).Beide gehörten zum Freundeskreis der in Münster wohnenden FÜRSTIN VON GALLIZIN, deren Einfluss und Bedeutung für die deutsche Geisteswelt der damaligen Zeit jüngsten literarischen Forschungen zufolge kaum hoch genug geschätzt werden kann³. Auf dem bekannten VON OER´SCHEN Gemälde Amalie Fürstin Gallitzin im Kreis ihrer Freunde/4 sind neben anderen auch FRANZ KASPAR BUCHHOLZ und JOHANN GEORG HAMANN abgebildet.
Von Hamann, der später "Magus im Norden" genannt wurde, ist einleitend zu sagen, dass er zu Lebzeiten in seiner Heimatstadt Königsberg - die damals ganz im Zeichen seines berühmten philosophischen Gegenspielers/5 Immanuel Kant (1724 - 1806) stand - ebenso wenig geachtet wurde, wie das im Altertum mit dem weisen Sokrates (470 - 399 v.Chr.) in Athen der Fall war. "Als Packhofverwalter", so wusste Castelle zu berichten, "musste J.G. Hamann in Königsberg mit seinen Angehörigen ein seinen geistigen Verhältnissen unwürdiges Dasein fristen."
Aber in vielen anderen geistigen Zentren Deutschlands wurden Hamanns Schriften schon damals mit grossem Interesse, ja mit Begeisterung gelesen; besonders in Weimar (Herder/6, Goethe) und - angeregt durch F.K. Buchholz aus Welbergen - in Münster. Das grosse Verdienst der münsterischen Freunde Hamanns aber bestand darin, dass sie es nicht nur bei der Begeisterung beließen, sondern ihm auch, besonders während seiner letzten Jahre in Königsberg, wirtschaftlich kräftig unter die Arme griffen. Und dabei war es wiederum der geliebte Schüler Alcibiades/7 - gemeint war Franz Kasper Buchholz -, der hier die Initiative ergriff.
Was war dieser Franz Kasper Buchholz auf Haus Welbergen für ein Mann? Aus den vielen Zeugnissen seiner erhalten gebliebenen Geistesarbeit/8 weiss man, dass er selber ein tiefsinniger Dichter und Denker war, dessen "liebenswürdige, stille, aber dennoch energische Ruhe" von Herder in einem Brief an einen gemeinsamen Freund gepriesen und als überaus wohltuend empfunden wurde.
Schon mit 17 Jahren war F.K. Buchholz Mitarbeiter der angesehenen deutschen Literatur- Zeitschrift DEUTSCHES MUSEUM. Von ihm wurden 1877/78 mehrere kleine Erzählungen, Betrachtungen und Parabeln veröffentlicht. In einer der Betrachtungen vergleicht er 1877 in dichterischer Sprache die gegensätzlichen zeitgenössischen Dichter und Schriftsteller JOHANN WOLFGANG V: GOETHE (der "Sonnenmann) und MATTHIAS CLAUDIUS (der "Geweihte des Mondes"):
Wärst du lieber Sonnenmann, oder der Geweihte des Mondes? In ewiger Urkraft flammt hoch die Sonne und weckt zur That um sich her; der Mond dämmert labende Ruh. Verzehrend in der Nähe ist ihr Feuer, blendet fern den starrer Blick und dehmütigt ihn, aber das leise Wort des Mondes ist Sympathie; geheim ist seine aufrichtende Kraft, so ein naher, stiller Lieber, der Frieden um sich her verbreitet und Genuss in seinem kleinen Kreise. Der Mond ist lieb; die Sonne ist groß. Der Mond ist groß, weil er lieb ist; die Sonne ist lieb, weil sie groß ist. Wärst du lieber Sonnenmann, oder der Geweihte des Mondes? Beyde sind dein Meisterstück, o Gott! Ich wage nicht zu richten über dein Werk. Ich bin Mensch, und achte mich geborgen in deinem Widerschein, zu sehen, wie doch alles so lieb und so groß ist, was an deiner Hand hervorgeht. - Bchz.
Als typischer Münsterländer hatte F.K. Buchholz natürlich auch seine besonderen Eigenarten. Um seinen Gesundheitszustand war er äußerst besorgt. Die Berichte, die F. Castelle darüber fand und im o. g. Aufsatz veröffentlichte, sind schon belustigend:
Er war sehr empfindlich gegen den Zug und überhaupt gegen die Einwirkungen der Luft auf seinen Körper, und hatte deshalb in seiner Wohnung seltsame mechanische Vorrichtungen angebracht, so dass er an seinem Schreibtische, der in der oberen Etage plaziert war, eine stehte sichere Controlle darüber sich verschaffen konnte, ob auch alle Türen seines Hauses sorgfältig geschlossen gehalten wurden. Sein Schneider musste die Fütterung seiner Weste und sonstigen Unterkleider so machen, dass jeder Teil seines Körpers von einer mehr oder minder dichten Zeugart nur so bedeckt wurde, wie er es nach ganz bestimmt aufgefassten medizinischen Vorschriften als nötig vorschrieb. Ein Augenzeuge sagte, als er das Futter einer solchen Weste zu sehen bekommen, habe es aus so vielen Stücken und Farben bestanden, dass es der damaligen Landkarte von Deutschland nicht unähnlich ausgesehen habe.
1759 erschien von Hamann die Schrift SOKRATISCHE DENKWÜRDIGKEITEN. Nach F. Castelle war dies die Initialzündung der späteren Hamann- Begeisterung in Münster. F.K. Buchholz, der offensichtlich schon einige Zeit vor seinen münsterischen Freunden - wie man heute sagen würde - ein echter Fan J.G. Hamanns war, hatte, so schreibt Castelle,
die Fürstin Gallitzin auf die SOKRATISCHE DENKWÜRDIGKEITEN aufmerksam gemacht und durch dieses Werk für den Philosophen entflammt. Bald darauf spricht die Fürstin Gallitzin Hamann den Wunsch aus, er möge sie baldigst in Münster besuchen. Im Dezember des Jahres schreibt von Welbergen aus auch F.K. Buchholz an Hamann und bittet ihn ohne alle Umschweife, sich als Hamanns Sohn betrachten, ihn in Königsberg besuchen und ihm eine Anweisung über zwölfhundert Gulden anbieten zu dürfen. Aber die Reise des jungen Buchholz nach Königsberg verzögert sich immer wieder. Im Juni 1785 entschloss sich Hamann, der Einladung seiner münsterischen Freunde zu folgen, doch neue Erkrankungen und Entlassungsschwierigkeiten mit dem Staat Preussen verzögerten die Reise - von der es keine Rückkehr geben sollte - noch um zwei Jahre. Erst am 21. Juni 1787 konnte der schwerkranke Mann in Begleitung seines 17-jährigen Sohnes Hans Michel die Reise antreten. Im Juli kam er in Münster an, besuchte von August bis November den Goethe-Freund F.H. Jacobi in Düsseldorf und siedelte endlich am 4. Dezember 1787 nach Welbergen über, wo er bis zum 19. März 1788 dauernd seinen Wohnsitz hatte.
"Dann quälte er sich", so schreibt Castelle weiter, "noch monatelang in Münster hin und starb dort am 21. Juni 1788".
Aus dem in Haus Welbergen zur Verfügung stehenden Unterlagen fand Castelle heraus, dass J.G. Hamann in dem Haus
zunächst in der kleinen Küchenstube über der grossen Herrschaftsküche, dann jenseits der Treppe in dem zweiten Oberwassergeschosszimmer und zuletzt in dem großen Zimmer darüber gewohnt hat.
Er führte hier ein echtes Einsiedlerleben, war oft wochenlang an das Bett gefesselt, blieb aber durch regen Briefwechsel stehts mit der ganzen Welt verbunden, hat insbesondere noch versucht, so schreibt Castelle,
sein Spinoza-Büchlein zu vollenden und im übrigen eine Fülle von Büchern durchgearbeitet, die er hier vorfand.
Der bäuerlichen Welberger Bevölkerung war der Fremde auf Haus Welbergen offensichtlich nicht ganz geheuer. Dazu schreibt Castelle:
Die Krankheit zwang Hamann zu einem äußerst ruhigen Leben. In seiner bäuerlichen Umwelt kam der einsiedlerische Mann natürlich bald ins Gerede. "Man machte mich", so schreibt er an Jacobi/9, "beinahe zum ewigen Juden Ahasverus, ehemaliger Schuhflicker in Jerusalem oder zu einem flüchtigen Pater redevivus, wenigstens für einen 100- bis 140- jährigen Greis, oder zu einem Nachkommen des Junkers Christian von Oldenhuss ´DEE DIT HUSS WELBERG GEBAUET OBIT AO 1553`, wie auf seinem Gemälde im Küchensaal mit dem Pinsel geschrieben steht, der alte Familienangelegenheiten hier mit unserem Franz ins reine zu bringen hätte".
Weiter schreibt Castelle:
So gab rührende Freundestreue dem Königsberger Philosophen, der sein ganzes Leben lang vom Schicksaal gehetzt worden ist, auf Haus Welbergen einen stillen, friedlichen Lebensabend, gab ihm jene große Ruhe und Harmonie, in der dieser sterbenderweise in den Dezembertagen 1787 auf Haus Welbergen sein geistiges Testament niederschrieb: "Vom Himmel muß unsere Philosophie anfangen und nicht vom Theatro anatomico und der Sektion eines Cadavers... Eine willige Unterwerfung unter den göttlichen Willen und eine schuldige Aufopferung unserer eigensinnigen Wünsche ist also das einzige und allgemeine Hülfsmittel gegen jeden Wechsellauf der Dinge, sie mögen für oder gegen uns sein. Ohne sich auf Grundsätze zu verlassen, die mehrerenteils auf Vorurteilen unseres Zeitalters beruhen, noch selbige zu verschmähen, weil sie zu den Elementen der gegenwärtigen Welt und unseres Zusammenhangs mit derselben gehören, ist wohl der sicherste und unerschütterlichste Grund aller Ruhe, sich mit kindlicher Einfalt an der lauteren Milch des Evangelii zu begnügen, sich nach der von Gott, nicht von den Menschen gegebenen Leuchte zu richten, die uns scheint an einem dunklen Ort, bis der Tag anbreche und der Morgenstern aufgehe; alle unsere Sorge auf den zu werfen, von dem wir die Verheißung haben, dass für unser und der Unserigen Schicksal sorgen werde; sich auf den einzigen Mittler und Fürsprecher zu verlassen, dessen Blut bessere Dinge redet als des ersten Heiligen und Märtyrers Abel, und uns von dem eitlen Wandel nach väterlicher Weise erlöset hat. - Hierin besteht das Alpha und Omega meiner ganzen Philosophie. Mehr weiß ich nicht und verlange ich nicht zu wissen".
Der abschließende, von Castelle in dichterischer Begeisterung niedergeschriebene Schlußsatz könnte auch für uns, den Menschen von heute, gesprochen und Mahnung und Auftrag sein:
Ehre sei dem Andenken dieses Bewohners von Welbergen und des edlen westfälischen Mannes, der ihm auf Roter Erde Frieden und Ruhe verschafft hat.
1 Nachtrag zu A. Bender, Dr. phil. F.Castelle in Heimatblätter Heft 3
2 Abgedruckt in: Haus Welbergen -Aus der Geschichte einer Wasserburg; Gronau 1930.
3 Vgl. Erich Trunz, Goethe und der Kreis von Münster; Münster (Aschendorffsche Verlagsbuchhandlung) 1974
4 siehe Abb. S. 30
5 Vgl. O. Bayer, Hamanns Kontroverse mit Kant um wahre Aufklärung; Tübingen 1981. Herders Volkslexikon schreibt über Hamann "Er überwand die Aufklärung durch die von ihm erlebte christliche Offenbarung" und des Irrationalen und durch Neuenddeckung der übernatürlichen christlichen Offenbarung" und über Kant "Aus Vernunftgründen lehnte er eine auf Offenbahrungsglauben gegründete Religion ab; er bezeichnete sie als ´Afterdienst`und läßt sie nur auf die Erfüllung sittlicher Gebote reduziert bestehen".
6 Johann Gottfried Herder (1744 - 1803)
7 E. Trunz, a.a.O.
8 Staatsarchiv Münster, Buchholz-Nachlass, Mappe 1; E. Trunz, a.a.O., S.7 und S. 227.
9 Friedrich Heinrich Jacobi (1743-1819), Philosoph und Schriftsteller.
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