Der Initiator der Stadtchronik von Ochtrup ist Rektor Anton Wegener. Er wurde am 20. Juli 1893 in Altenaffeln bei Neuenrade im Märkischen Kreis (Hönnetal) geboren und starb am 20. Mai 1980 in Münster-Albachten. Wegener war seit dem 8. September 1920 mit Magdalene Schmitz aus Münster verheiratet und wohnte in der Dienstwohnung an der Lambertischule Ochtrup. Von den fünf Kindern des Ehepaares lebt heute nur noch der 1927 geborene Sohn Gisbert, Studiendirektor i.R. in Dülmen.
Anton Wegener trat nach dem Studium am 1. April 1913 in den Schuldienst ein. 1915 leistete er ein Jahr Militärdienst und tat dann vertretungsweise Dienst in Nordkirchen und Südkirchen für eingezogene Kollegen. 1928 legte er die Prüfung als Mittelschullehrer und 1930 für den Schulleiter ab. Im Jahre 1932 wurde er zum Rektor der Knabenschule in Ochtrup berufen. Die Dienstwohnung war jedoch noch von seinem Vorgänger besetzt und Wegener musste warten, bis der Neubau für seinen Vorgänger Woltering bezugsfertig war.
Als Rektor der Knabenschule sollte er Mitglied der NSDAP und des NS-Lehrerbundes sein. Dass seine Vereidigung erst am 14. September 1934 stattfand, hängt mit einer Untersuchung seiner politischen Gesinnung zu Beginn der NS-Zeit zusammen. Die Personalakte Wegener[1] enthält einen Brief des Ochtruper Bürgermeisters Dr. Linnhoff vom 26. April 1934 an das Landratsamt, der aussagt, dass Wegener sich „in politischer und gesellschaftlicher Hinsicht sehr zurückgehalten hat.“ Weiter bemerkt der Bürgermeister: „Beweisbare Tatsachen, die berechtigten Zweifel an seine innere Umstellung auf den Geist des Nationalsozialismus aufkommen lassen, sind mir persönlich nicht bekannt. Im Kollegenkreis soll er verschiedentlich stark zentrumsparteipolitisch beeinflußte Äußerungen gemacht haben.“
Wegener hielt sich stets bescheiden im Hintergrund und befasste sich so intensiv mit der Ochtruper Geschichte, dass er von 1939 bis 1955 das Stadtarchiv leiten konnte. Er trat öffentlich nicht in Erscheinung, aber bei seiner Pensionierung im Jahre 1956 legte er das Heimatbuch Ochtrup[2] vor. Dieses hat einen Umfang von fast 800 Seiten und besteht aus einem geschichtlichen Teil bis um 1900 und einem umfangreicheren genealogischen Teil mit den Höfen und Familiennamen von Stadt und Bauerschaften, der mit einem Namensregister endet. Dieses Heimatbuch ist seit langer Zeit vergriffen.
Als Wegener 1956 in den Ruhestand versetzt wurde, hinterließ er dem Stadtarchiv zwei dicke Bände einer Stadtchronik in schöner Sütterlinschrift, ein Werk das man auch als Kriegschronik bezeichnen kann. Von dieser Arbeit wussten nur wenige Leute in Ochtrup, denn der Autor hatte zwar seit Kriegsbeginn daran gearbeitet, aber kaum jemanden eingeweiht, um keine Schwierigkeiten zu haben. Der erste Band verzeichnet die Kriegsereignisse in einer Weise, die weit über die Ortsgeschichte von Interesse sind und enthält zudem viele seltene Anlagen wie Lebensmittelkarten, Flugblätter, Heimatbriefe von Partei, Kirche und Firmen an die Ochtruper Frontsoldaten. Auch von der Unterbringung der Kriegsgefangenen, der Belegung der Schulen mit niederländischen Zwangsarbeitern, der Organisation Todt und der Tätigkeit der NSDAP wird so berichtet, dass es damals keineswegs öffentlich bekannt werden durfte.
Zusammen mit sechs Kollegen wurde Wegener am 7. September 1945 als Parteimitglied vom Schuldienst beurlaubt. Nun hatte er erst recht Zeit für die Tätigkeit des Chronisten von Ochtrup. Wegener gehörte indes zu den zehn Ochtruper unbelasteten Lehrern und Lehrerinnen, die schon am 20. September 1946 von der Militärregierung für den Schuldienst wieder zugelassen wurden. Die Leitung der Lambertischule konnte er jedoch nicht übernehmen, sondern er arbeitete in der Landschule Oster II (Kranenbült), wurde aber am 6.1.1948 wieder als Rektor der Lambertischule vorgeschlagen. Ihm wurde bei dieser Gelegenheit vom Amtsdirektor „die Wertschätzung der gesamten Elternschaft, Erzieherschaft und der Behörde“ bescheinigt[3].
Sein zweitjüngster Sohn Gisbert Wegener war Studiendirektor für Mathematik und Physik am Gymnasium in Dülmen. Er hatte ganz bewusst ideologiefreie Studienfächer gewählt und 1953 sein Examen gemacht. Als Zeitzeuge hat er 1945 einen Bericht für die Chronik seines Vaters geliefert. Konfrontiert mit diesen Aussagen kann er heute diese nur bestätigen und will ihnen nichts hinzufügen. Als Fallschirmjäger war er zum Kriegsende bei Gronau-Ochtrup eingesetzt.
Er schildert seinen Vater als einen vom christlichen Glauben geprägten Lehrer, der in der NS-Zeit das Schweigen gelernt habe. Durch die Verhaftung von Kaplan Scheipers wusste Anton Wegener von der Wirklichkeit der Konzentrationslager, in denen die Häftlinge angeblich umerzogen werden sollten. Er wusste durch die Sammlung der alliierten Flugblätter und durch das Abhören der Feindsender von den tatsächlichen Verhältnissen an den Fronten und glaubte, dass es ausgeschlossen sei, den Krieg bei der Materialüberlegenheit der Gegner zu gewinnen.
Als der Stellvertreter des Führers Rudolf Heß nach England geflohen war, äußerte der Geschichtslehrer von Gisbert Wegeners Bruder im Gymnasium Paulinum in Münster vor seiner Klasse – nachdem er einen Hitlerjungen zum Kreideholen geschickt hatte: „Die Ratten verlassen das sinkende Schiff.“ Gisbert Wegener erlebte als Fahrschüler auf dem Weg zum Gymnasium in Gronau auch, wie die Schüler die neuesten Naziwitze erzählten.
Rektor Anton Wegener erwähnt zwar in seiner Kriegschronik einige wichtige Ereignisse mit keinem Wort, z.B. die Niederlage bei Stalingrad oder das Attentat auf Hitler, aber die berichteten Geschehnisse waren gefährlich genug, dass er die Chronik nicht nur in Sütterlin schrieb, eine Schrift, von der er annahm, dass viele sie nicht lesen konnten, er versteckte die Chronik auch und sprach nicht darüber. Zu den für den Verfasser gefährlichen Dingen gehörte z. B. das o.g. Sammeln der englischen Flugblätter und das Abhören des Feindsenders, die Notizen über die alliierte Lufthoheit, Bemerkungen über das Benehmen der Parteiführer gegen Kriegsende oder den ungeordneten Rückzug der deutschen Truppen in den Niederlanden usw.
Wenn die Kinder im Hause Wegener die Mutter fragten: Wo ist Vater?“, dann antwortete sie: „Der arbeitet an der Chronik.“ Einige Angestellte der Stadtverwaltung wussten auch von der Chronik, denn er bekam von der Stadt das Büttenpapier für die Reinschrift und manche Nachrichten und Texte. Bekannt aber wurde die Existenz der Chronik in Ochtrup erst durch einen Beitrag des Stadtarchivars Brockhoff im Steinfurter Jahrbuch von 1988.[4]
Wegener sammelte die Informationen und schrieb sie zunächst auf benutzte Formulare, die er von der Sparkasse erhielt. Die Reinschrift geschah – wie gesagt – in Sütterlinschrift. Von Zeit zu Zeit fügte er Anlagen ein. Dabei handelt es sich um Flugblätter, Lebensmittelkarten wie Kleider- und Raucherkarten, Heimatbriefe, Fotos von Bombenschäden, eine Liste der in Ochtrup gefallenen englischen und deutschen Soldaten (I S. 766 f), Listen über die Dauer des Fliegeralarms in Ochtrup (Bd. I S. 772 f.), Ergebnisse der Textilsammlung der Militärregierung im Oktober 1945 (Bd. I S. 791 f.) und Augenzeugenberichte vom Einmarsch der Alliierten.
Nach 1945 wird die Anlage von Dokumenten vor allem durch Zeitungsausschnitte ersetzt und am Ende des Bandes II befindet sich eine vollständiges und informatives Verzeichnis aller Flüchtlinge und Ostvertriebenen in Ochtrup.
Alle neun Bände der Stadtchronik[5] werden im Stadtarchiv Ochtrup verwahrt und sind ein wertvolles Dokument der jüngeren Ortsgeschichte. Wir verdanken sie einem bescheidenen Lehrer, der wie sein Vorgänger bei seiner Pensionierung die Dienstwohnung verlassen musste. Ein eigenes Haus zu bauen, war bei den damaligen Gehältern einem Lehrer nur schwer möglich. Ohne großen Abschied verließ er Ochtrup und wohnte bis zu seinem Tode in einer Wohnung bei seiner ältesten Tochter in Münster-Albachten, wo er Zeit hatte, sich intensiv seinen Enkeln zu widmen, und wo er im Jahre 1980 starb. In Albachten liegt er auch mit seiner Frau begraben.
Die Stadt Ochtrup widmete ihm zum Dank für seine Verdienste um die Heimatgeschichte einen Straßennamen, den „Anton-Wegener-Weg“.
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[1] Vgl. StA Ochtrup E 472 Bd. III.
[2] Anton Wegener, Ochtrup. Ein Heimatbuch. Münster o.J. [1956] Umfang 794 Seiten, davon Hofes- und Familiengeschichte ab S. 283 mit Namensregister.
[3] Vgl. Personalakte Wegener.
[4] Vgl. Jahrbuch für den Kreis Steinfurt 1988, S. 51-53.
[5] Signatur CHR und Nr. des Bandes.
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