Gespräch mit Pastor Hermann Scheipers, Ochtrup
Herr Pastor Scheipers, Sie sind
1. ein "alter Ochtruper", waren
2. als Häftling Nr. 24255 von März 1941 bis April 1945 Insasse
des berüchtigten Konzentrstionslagers Dachau und
3. während dieser Zeit Weggenosse des am 23.6.1996 seliggesprochenen Karl Leisner.
Sie gehören zu den wenigen heute noch lebenden Menschen, welche die Terrorherrschaft des Nationalsozialismus in dieser schrecklichen Weise persönlich miterlebten mußten und sind deshalb als Zeitzeuge für uns besonders kompetent. Wir möchten gern aus Ihrem Munde erfahren, „ wie es damals war“: warum und weshalb waren Sie solange Jahre Gefangener der Gestapo, wie ist es Ihnen während dieser Haft, besonders im KZ Dachau ergangen und last not least, wie war der „Wellenschlag " in Ochtrup ?
„Seit Anfang des Krieges ", so berichtet Pastor Scheipers, „war ich in Sachsen als katholischer Geistlicher zuständig für ein Gebiet mit über 150 Ortschaften. So blieb es nicht aus, daß ich in der Gegend sehr bekannt war; und das war, wie ich schon vorweg sagen muß, der alleinige Grund meiner Verhaftung am 4.10.1940 in meinem Pfarramt auf Schloß Hubertusburg, wo damals weit und breit auch die einzige katholische Kirche war. ( Zur Erinnerung: 1763 beendete der Friede von Hubertusburg den 7- jährigen Krieg.) Ich kam in Polizeigewahrsam nach Leipzig und blieb dort sechs Monate. Nicht nur ich, sondern auch das dort beschäftigte Wachpersonal rechnete tagtäglich mit meiner Entlassung; - stattdessen kam im März 1941 die „Uberführung " in das KZ Dachau. In der Nacht vor meinem Abtransport hatte ich heimlich Gelegenheit,in meiner Personalakte zu lesen. Dabei erfuhr ich, daß der Ortsgruppenleiter meines Wohnortes, ein abgefallener Katholik ( im überwiegend evangelischen Sachsen eine Seltenheit), bei der Gestapo meine Inhaftierung verlangt hatte. Der Schlußvermerk meiner Personalakte lautete: „Da Scheipers ein fanatischer Verfechter der Kirche ist, und deswegen geeignet ist, Unruhe in die Bevölkerung zu tragen, veranlassen wir KZ-Haft in Dachau“.
Allein wegen dieser „ Geeignetheit " wurde ich zum “Staatsfeind" erklärt und auch so später in Dachau auf meiner Karteikarte eingestuft.
Eine Station auf dem Transport nach Dachau war das Gefängnis in Hof. Dort übernachtete ich in der gleichen Zelle, in der 2 Jahre später, am 5.11.1943, Probst Lichtenberg, auf dem Transport nach Dachau, seinen tödlichen Schwächeanfall erlitt. Je näher der Transport nach Dachau kam, um so stiller wurde es; allen Häftlingen und sicher auch mir stand sie Angst im Gesicht.
Bei der Einlieferung wurden wir vom SS-Lagerkommandanten „empfangen". Wörtlich sagte er: „Ihr seid hier ehrlos, wehrlos und rechtlos! " Und genauso war es dann auch: jeder der dort tätigen SS-Schergen konnte jeden Häftling behandeln wie er wollte, je grausamer um so besser. Als der Lagerkommandant seine Ansprache beendet hatte, kamen junge SS-Leute auf uns zu, die offensichtlich in dieser Art der Gefangenenbehandlung geschult werden sollten. „Warum bist Du hier ?" so wurde gefragt, und dann gab es wüste Beschimpfungen, Tritte und Schläge. Neben mir stand ein Priester aus Posen, der etwas beleibt war. „ Sehr Euch diesen vollgefressenen Pfaffen an", schrie der SS-Mann und trat ihn mit voller Wucht gegen den Bauch. Weil ich geahnt hatte, daß die SS auf uns Priester besonders allergisch reagieren würde, hatte ich meinen Mantelkragen hochgeschlagen, daß mein Priesterkragen nicht zu sehen war. Auf die Frage: „Warum bist Du hier?" antwortete ich, ohne die Unwahrheit zu sagen: „Wegen freundlichen Umgangs mit polnischen Zivilarbeitern." „ Wie alt war das Mädchen?“ fragte er grinsend. „Kein Mädchen, es waren Männer," war meine Antwort. Bevor er daraufhin mir seine Meinung über mich und mein „Vergehen" handgreiflich sagen und zeigen konnte, wurde er zu meinem Glück von einem anderen SS-Schläger weggerufen.
Über die allgemeinen Zustände im KZ Dachau, der „Heiden-, Sklaven-, Narren- und Todesstadt" (so die knappe, aber genau zutreffende Beschreibung meines Mithäftlings Pater Josef Kentenich) ist anderweitig genügend geschrieben und berichtet worden. Deshalb will ich meine Schilderung auf die Begebenheit beschränken, die für mich in Dachau und für meine Angehörigen in Ochtrup am Dramatischten war.
In Dachau sind insgesamt ca. 1000 Priester gestorben bezw. Ermordet worden, und auch ich war mehrere Male in einer Situation, in der ich den baldigen Tod vor Augen hatte. Das war besonders der Fall, als ich im Juli/August 1942 ca. 6 Wochen lang Insasse des sogenannten „Invalidenblocks" war. Der „Invalidenblock" war eine abgesonderte Baracke, die innerhalb des KZ noch einmal mit Stacheldraht umgeben war. Es war ein „Gefängnis im Gefängnis", das, wie man heute weiß, nach der berüchtigten „Wannseekonferenz", auf der bekanntlich die „Endlösung der Judenfrage" beschlossen wurde, zu diesem Zweck auch im KZ Dachau eingerichtet wurde. Aber in Dachau wurden nicht nur jüdische, sondern auch solche Häftlinge vergast bzw. zur Vergasung abtransportiert, die e so paradox es klingt, so diabolisch-raffiniert war es -nicht richtig gesund, aber auch nicht richtig krank, sondern „ nur "über kurz oder lang, nicht voll arbeitsfähig waren.
Anfangs wußte keiner, was mit diesen Häftlingen, die schubweise abtransportiert wurden und keinen Kontakt mit den anderen Gefangenen haben durften, anschließend geschah. Dann sickerte nach und nach durch, daß in der Lagerverwaltung kurze Zeit später für alle diese eine Todesbenachrichtigung geschrieben wurde. Das Wort „Vergasung" geisterte wie ein Schreckgespenst durch das Lager; aber viele Insassen, besonders die ausländischen Mithäftlinge, wollten einfach nicht daran glauben. Erst nach dem Kriege wurde es schreckliche Gewissheit: Die Transporte mit den Gefangenen aus dem Invalidenblock im KZ Dachau gingen ausnahmslos nach Schloß Hartheim bei Linz (Österreich). In der dortigen Gaskammer wurden sie ermordet.
Als ich im Juli 1942 als Gefangener in den Invalidenblock musste (Schwächeanfall auf dem Appellplatz; statt der von mir erhofften ein- oder zweitägigen Ruhepause im Krankenrevier von dort unerwartete Einweisung durch einen SS-Offizier in den Invalidenblock), waren bis dahin allein von uns Priestern mehr als 300 abtransportiert und anschließend für tot erklärt worden; insgesamt über 3000 Häftlinge.
Der Tag meiner Einweisung war auch der Tag, an dem monatlich an Angehörige geschrieben werden durfte. In meinem Brief nach Ochtrup schrieb ich den Satz: "Hat Hedwig schon geheiratet?" Dies war das Geheimwort, welches ich einige Monate zuvor meinem Bruder Josef mitgab, der während eines Wehrmachtsurlaubs vergeblich versucht hatte, mich in Dachau zu besuchen Er konnte mich am Zaun der SS-Plantage - meiner gewöhnlichen Arbeitsstätte - unbeobachtet treffen, und ich warf ihm meinen an einen Stein gebundenen Brie£ mit dem Losungswort, in einem güstigen Moment zu. Es bedeutete: „Höchste Lebensgefahr!“
Dieser Brief steigerte die in der Familie Scheipers schon vorher ständig herrschende Angst und Sorge meinetwegen auf das Äußerste.
Hinzu kam, daß einige Tage später die weitere depremierende Nachricht in Ochtrup eintraf, die mein Rheiner Mitschüler, Mitpriester und Mithäftling in Dachau, Heinrich Kötter, seinen in Ibbenbüren Laggenbeck wohnenden Eltern geschrieben hatte, daß es mit „Männe“ (mein Spitzname) „wohl zu Ende gehe.“ Alle waren ratlos und wie gelähmt. Mit einer Ausnahme! Diese Ausnahme war Anna, meine Zwillingsschwester.
Nie zuvor war es vorgekommen, daß ein Häftling, der einmal im Invalidenblock war, von dort wieder heraus gekommen wäre. Bei mir geschah es. Die mir in dieser schlimmsten Zeit meiner KZ-Haft von meinem Stubengefährten Karl Leisner 1) durch den Stacheldraht leise zugerufene Aufmunterung: „Hermann, denk an die drei Jünglinge im Feuerofen“ erwies sich nachträglich als wahre Prophezeiung.2)
Das aber verdanke ich nach Gott in erster Linie meiner Schwester Anna. Auch in dieser damals so ausweglos erscheinenden Situation konnte und wollte sie nicht aufgeben. Unbeirrbar glaubte sie an eine Rettungsmöglichkeit; wagte alles und gewann alles !
Meine Schwester wohnt heute in Münster. Sie ist an den Rollstuhl gefesselt und kann und will sich nur ungern an all die Aufregungen und furchterregenden Dinge erinnern, die damals für Jahre ihren Alltag beherrschten. Nichts liegt ihr ferner, als mit ihren „ Heldentaten“, die in ihren Augen doch „Selbstverständlichkeiten“ waren, zu prahlen und möchte lieber ungenannt bleiben. Die Bruchstücke ihrer Erinnerung ergeben in etwa folgendes Bild:
Als meine Schwester im Oktober 1941 von meiner Verhaftung durch die Gestsapo erfuhr, gab es bei ihr kein langes Überlegen. Obwohl äußerlich weit entfernt, spürte sie deutlich meine Gefühle der Angst und Not. Sie wollte und mußte in meiner Nähe sein. Zusammen mit einer treuen Freundin machte sie sich gleich auf den Weg nach Leipzig. Hier angekommen, verschaffte sie sich mit fraulicher "List und Tücke" (und sicherlich viel Glück) bei einer günstigen Gelegenheit den unkontrollierten(!) Eingang in das Polizeipräsidium, gelangte bis zu einer Tür, dahinter sie den Bruder vermutete, schaute durch das Schlüsselloch und sah ihn tatsächlich dort stehen. Der Besuch war streng verboten; dennoch versuchte sie es in den nächsten Tagen immer wieder; natürlich vergeblich. Aber sie kam mit dem Wachpersonal ins Gespräch und spürte deutlich, dass diese Leute auf die Gestapo, als berufliche Konkurrenz, schlecht zu sprechen waren. Auch zur Gestapo selbst hatte sie sich mit Angst und Zagen hingewagt. Aber als sie an der Eingangstür ihr Anliegen vortrug, ließ man sie gar nicht erst in das Gebäude herein. Dann die unerwartete und ungewollte Hilfe von einem durch ihr ständiges Fragenund Bitten arg genervten Justizbeamten im Präsidium. „ Da müssen Sie schon den Herrn Lärritz bei der Gestapo fragen!“ flog es ihm heraus; ärgerlich über die lästige Frage- und Bittstellerin wie auch auf den Herrn Lärritz, dessen Namen zu nennen, ihm, wie deutlich zu spüren war, streng verboten war.
Nun aber war es heraus; und meine Schwester ahnte: dies war der Schlüssel für ihre einzige Chance. Die Gestapo verlor dadurch zwar nicht die von ihr ausgehende tödliche Bedrohung, aber diese Bedrohung war nicht mehr anonym, sie hatte einen menschlichen Namen bekommen, und mit Menschen, das wußte meine Schwester, konnte sie umgehen.
Wieder steht sie klopfenden Herzens vor der Eingangstür des Gestapogebäudes. Aber dieses Mal verlangt sie ohne alle Umschweife Auskunft über den Weg zum Dienstzimmer des Herrn Lärritz. Sie bekommt was sie will: den Eintritt, die Auskunft und dann auch den Mann zu Gesicht, von dem sie weiß, daß er nicht nur das Schicksal ihres Bruders in der Hand hat sondern auch die Macht besitzt, diese fremde Frau, die es auf unerklärliche Weise geschafft hat, bis zu ihm vorzudringen, wenn er will, für immer mundtot zu machen. Aber Herr Lärritz läßt sie nicht verhaften. Der Besuch überrascht ihn, ist ihm unangenehm. Möglichst schnell, und ohne großes Aufsehen will er diese ungewöhnliche Bittstellerin wieder loswerden. Höflich erklärt er ihr, daß sie sich um das weitere Schicksal ihres Bruders keine Sorgen zu machen brauche, es gehe ihm ganz gut. Jedoch aus "zwingenden dienstlichen Gründen" könne er ihr leider die erbetene Besuchererlaubnis nicht geben. Damit sollte das Gespräch beendet sein, aber Anna Scheipers aus Ochtrup gelingt es, das Gespräch mit diesem in Leipzig allseits gefürchteten Mann in die Länge zu ziehen. Voll scheinbarem Interesse erkundigt er sich nach ihren persönlichen Verhältnissen und der allgemeinen Situation im Münsterland. Er erzählt beiläufig, daß er selbst schon lange Zeit ihren Bruder beobachtet und verschiedentlich auch seine Predigten angehört habe.
Er habe dabei aber, so gibt er freimütig zu, "nichts Anstößiges" gesehen oder gehört. Damit ist das Gespräch nun wirklich zu Ende. Herr Lärritz ahnt nicht, daß diese lästige Bittstellerin auch am nächsten und auch am übernächsten Tag erneut zu ihm kommen wird, sich durch nichts überreden und abweisen läßt und ihm schließlich wörtlich sagt: „Herr Lärritz, jeder Schwerverbrecher bekommt in Deutschland wenigstens einmal im Monat eine Besuchererlaubnis, warum mein Bruder nicht ?!“. Daraufhin, so erzählte meine Schwester später, nahm Herr Lärritz seinen Mantel und forderte sie auf, mitzukommen. Meine Schwester wußte nicht, was nun geschehen würde. Der Weg ging zum Polizeipräsidium. Die Geschwister Scheipers durften sich im Beisein des Herrn Lärritz eine Zeitlang unterhalten.
Das, was dieser nicht hören sollte, wurde schnell in Plattdeutsch gesprochen. Als Herr Lärritz das merkte, schimpfte er über das "Kauderwelsch" und beendete das Gespräch. Aber meine Schwester konnte erleichtert nach Hause zurückfahren und wenigstens für die erste Zeit auch die Angehörigen, besonders die Eltern, beruhigen. Sobald meine Schwester Anna im Juli 1942 meine Hiobsbotschaft aus Dachau gelesen und mit dem Vater des Mithäftlings Kötter gesprochen hatte, wußte beziehungsweise ahnte sie deutlich, daß, wenn überhaupt, nur ein sofortiges Handeln noch Rettung bringen konnte. Aber was tun?
Auf dem Zettel, den ich seinerzeit meinem Bruder Josef zugeworfen hatte, stand geschrieben, daß, falls „Tante Hedwig heirate“ mir doch bitte sofort jemand einen Zivilanzug, eine scharfe Zange und möglichst auch ein Fahrrad an diese Stelle des Plantagenzaunes bringen solle; Objektiv gesehen, eine aberwitzige Bitte, aber so hatte ich tatsächlich geschrieben. Ebenso wie meine Eltern,- die außerdem befürchten mußten, dadurch auch ein zweites Kind an die Fänge der SS zu verlieren,- war auch meine Schwester von der Aussichtslosigkeit dieses Unterfangens überzeugt. Sie aber konnte und wollte den in großer Gefahr und Not befindlichen Bruder nicht enttäuschen.
Sie besorgte die Sachen, fuhr mit einer Freundin nach Dachau und versuchte so unauffällig wie möglich, den Bruder an der bezeichneten Stelle am Plantagenzaun zu sehen und zu treffen. Erst nach zweiTagen konnten Mitgefangene ihr heimlich zurufen, daß ihr Bruder nicht mehr kommen könne. Als ich im Invalidenblock erfuhr, dass meine Schwester auf mich wartend am Zaun gestanden hatte, dann aber wieder weggegangen sei, gab ich mich in Dachau zum ersten und einzigen Mal verloren. Ich glaubte sicher und war davon überzeugt, daß nun auch ich, wie viele meiner Leidensgenossen, das Opfer des Lebens bringen müsse.
Aber diese „Rechnung mit dem Himmel“ hatte ich ohne meine Schwester Anna gemacht. Auf der Rückfahrt im Zug von Dachau nach Münster zermarterte sie Ihr Gehirn. Irgendeine Rettungsmöglichkeit mußte es für den geliebten Bruder doch geben! Dann kam es wie eine Erleuchtung. Das Zauberwort hieß "“Lärritz“. Diesen Mann hatte sie schon fast vergessen. Aber er hatte ihr, wenn auch widerwillig, damals geholfen. Er allein, so wußte sie plötzlich sicher, konnte und mußte auch jetzt helfen.
Wie es ihr dann wieder in Ochtrup angekommen - gelang, den im allgemeinen sehr nüchtern denkenden Vater zu bewegen, mit ihr schon am nächsten Tag nach Leipzig zu fahren, ist meiner Schwester noch heute ein Rätsel. Denn äußerlich gesehen und nach menschlichem Ermessen konnte diese Fahrt nur genau so ergebnislos enden wie ihre Reise nach Dachau.
Und so schien es auch. In Leipzig trafen Vater und Tochter Scheipers auf einen sehr ungehaltenen und sehr unfreundlichen Herrn Lärritz, der meine Schwester gleich wieder erkannte. „Die Fahrt nach Leipzig hätten Sie sich und Ihr Herr Vater sparen können,“ fauchte er sie barsch an, „ich habe damit nichts mehr zu tun, die Sache liegt beim Sicherheitshauptamt in Berlin.“
Damit sollte die Unterredung auch schon beendet sein. Aber eine innere Stimme riet meiner Schwester auch diesmal nicht sofort, wie deutlich erwünscht, das Zimmer zu verlassen. Wollte Lärritz die unbequemen Gäste möglichst schnell loswerden? Wollte er, so unwahrscheinlich es auch klingt, meiner Schwester wirklich helfen? Oder wollte er, was auch noch möglich war, seinen Gestapo-Kollegen in Berlin mit diesem Quälgeist aus dem Münsterland einen Schabernack spielen? Man weiß es nicht. Jedenfalls sagte er noch: „Zuständig in Berlin ist Dr. Bernsdorf“ und nennt dessen Adresse, irgendwo in Berlin-Oranienburg. Aber dann, möglicherweise als Versuch, ihr doch noch den Mut zu nehmen, zur Gestapo nach Berlin zu fahren, rief Lärritz meiner Schwester im höhnischen Ton zu: „Auch Sie, Fräulein Scheipers, werden in Münster von unseren Leuten genau überwacht.“ Das war für meine Schwester keine Überraschung, sie hatte es schon lange vermutet. Die Scheipers fahren nach Berlin und staunen nicht schlecht, als sie in Oranienburg vor einem Haus stehen, das sich durch nichts von den anderen Miethäusern unterscheidet. Das Namensschild „Dr. Bernsdorf“ ist eines von vielen. Vorsichtig versuchen sie, mit anderen Bewohnern des Hauses ins Gespräch zu kommen und finden heraus, daß keiner von ihnen auch nur die geringste Ahnung davon hat, daß sich hinter dem Namen „Dr. Bernsdorf“ eine Zweigstelle des in der gesamten Bevölkerung bekannten und gefürchteten Reichssicherheitshauptamtes befindet. Herr Dr. Bernsdorf zeigt sich über den Besuch aus dem Münsterland überrascht, aber sein Benehmen ist zuvorkommend, höflich, sehr korrekt. Ohne alle Umschweife gibt er zu, daß er in Berlin der Mann ist, der für die im KZ Dachau befindlichen Priester zuständig sei. Ja, er führt die beiden sogar in einen großen Raum, wo sämtliche
Akten aufbewahrt sind und zeigt sie ihnen. Lächelnd und seiner Sache völlig sicher sagt er, daß ihre Sorge um den Sohn und Bruder wirklich unbegründet und überflüssig sei. Das KZ Dachau sei doch ihr "Vorzeige KZ". Dort hätten es die Gefangenen vergleichsweise viel besser als anderswo. Freundlich versicherte er noch einmal, daß sie wirklich ganz beruhigt nach Hause fahren könnten. Es klang alles überzeugend und glaubhaft. Vater Scheipers, der wahrscheinlich froh war, daß ihr Besuch bei der Gestapo in Berlin - für viele das Zentrum allen Schreckens - in so angenehmer Atmosphäre und mit einem doch wohl beruhigenden Ergebnis verlaufen war, wollte daraufhin schon aufstehen und sich verabschieden. Aber dann hörte er die Stimme seiner Tochter. Sehr leise, aber bestimmt. „ S i t t e n b 1 i e w e n !“ Anna Scheipers nimmt das Heft des Gespräches in die Hand. Ganz ruhig fragt sie: „Ist Ihnen eigentlich bekannt, Herr Dr. Bernsdorf, daß es im ganzen Münsterland ein offenes Geheimnis ist, daß im KZ Dachau auch Priester vergast werden?“ Das war ein Schuß ins Ungewisse, aber er traf genau ins Schwarze. Denn zum Einen sollte und durfte niemand wissen, daß im KZ Dachau beziehungsweise von diesem KZ aus Transporte zur Vergasung abgingen, und zum anderen war es gerade die Zeit, wo die berühmten Predigten des Bischofs von Galen in Münster gegen die Tötung beziehungsweise Vergasung des sogenannten „unwerten Lebens“ in aller Munde waren. Die NS-Führung war eifrigst bemüht, alles Geschehene zu vertuschen und alles zu vermeiden, was in der Bevölkerung, insbesondere bei den Soldaten an der Front, als Angriff gegen die Kirche ausgelegt werden könnte.
Der vorher so sicher wirkende Dr. Berndorf wird sichtlich nervös und unruhig. Und Anna Scheipers spürt, daß ihr bei diesem Spiel, bei dem es wirklich um Leben und Tod ging, unerwartet ein entscheidender Trumpf in die Hand gegeben wurde. Alle taktischen Raffinessen nutzten dem Herrn Dr. Bernsdorf nicht mehr. Er kann sagen, versichern und beteuern soviel er will. Immer von neuem hört er die stereotype Antwort: „Aber in Münster und im Münsterland sagt man ......, glauben alle Leute ......, spricht man überall davon, daß in Dachau“ Schließlich gibt Dr. Bernsdorf auf. Er geht in einen Nebenraum und spricht mit einem Kollegen. Beide Herren kommen zurück und einer sagt ihr: „Sie können sich darauf verlassen, ihrem Bruder wird nichts passieren.“ Dann, keinen Zug zu früh und keinen Zug zu spät, der alles entscheidene Schritt: „Das kann doch jeder sagen. ich verlasse diesen Raum nicht eher bis ich weiß, daß mein Bruder außer jeder Gefahr ist!“ Die beiden Herren verständigen sich durch Blicke. Einer von Ihnen ging in den Nebenraum und telefonierte, so, daß meine Schwester es hören konnte. Es war ein Gespräch mit der Verwaltung des KZ Dachau. Er kam zurück und sagte: „Innerhalb von drei Tagen bekommen Sie von Ihrem Bruder die Nachricht, daß es ihm gut geht!“
Damit endlich gab meine Schwester sich zufrieden. Die beiden Scheipers fuhren zurück nach Ochtrup und wirklich: wenige Tage später kam die verschleiert überschwengliche Freudenbotschaft aus Dachau. Hermann teilte mit, daß es ihm sehr gut gehe.
Was war geschehen? Am Abend des 13. August 1942 - genau an dem Tag hatte das Gespräch in Berlin stattgefunden - riß ein Kurier der sogenannten „politischen Abteilung“ der Lagerverwaltung die Tür unserer Stube im Invalidenblock auf mit dem Ruf: „Die reichsdeutschen Pfaffen müssen hier heraus!". Zu viert konnten wir den Invalidenblock verlassen. Alle Priester in Dachau freuten sich, so eine Rückkehr hatte es zuvor noch nicht gegeben. Die Freude wurde noch größer, als drei Wochen später auch die nichtdeutschen Priester den Invalidenblock verlassen durften. Wir, die Priester in Dachau, blieben auch in der Folgezeit von der Todesmaschinerie des Invalidenblocks verschont.
Bis zum 13.8.1942 waren in Dachau insgesamt 336 Priester zur Vergasung nach Schloß Hartheim abtransportiert worden. Ob sich heute noch einer dieser Märtyrer seines Glaubens erinnert? Man kann sich ausrechnen, wieviele Priester aller Wahrscheinlichkeit nach bis Ende 1944 ohne das unbeirrbare und tapfere Reden und Handeln meiner Schwester bei der Gestapo in Berlin, diesen qualvollen Tod noch hätten erleiden müssen. Mit dem Schicksal des Bruders rettete sie auch das seiner Schicksalsgenossen.
Bischof Wienken, der damalige „Sprecher der deutschen Bischofskonferenz bei der deutschen Reichsregierung“, als Bischof von Meißen später mein Ortsbischof, hat davon erfahren. Er sagte mir wörtlich: „Sie haben aber eine Schwester; so ein tapferes Mädel ist mir in meinem ganzen Leben nicht begegnet.“ Au£ Initiative des früheren "Welberger Kaplan" Klockenbusch, der selber während der NS-Zeit eine zeitlang politischer Gefangener war, wurde meiner Schwester im Jahr 1987 von Rom aus der Orden „Pro Ecclesia et Pontifice“ verliehen. Der münsterische Regionalbischof Ostermann überreichte ihn persönlich.
Wir, die Mitglieder der Redaktion der „Ochtruper Heimatblätter“ danken Herrn Pastor Hermann Scheipers sehr herzlich für seinen Bericht. Er ist ein wertvoller Beitrag zur Ochtruper Zeit- und Heimatgeschichte.
In der nächsten Ausgabe dieser Zeitschrift wird Pastor Scheipers weiterhin berichten über seine dramatische Flucht auf dem „Dachauer Todesmarsch", über Erlebnisse in Ochtrup nach seiner Rückkehr 1945 und auch darüber, wie es ihm anschließend als katholischer Priester unter der DDR-Diktatur ergangen ist.
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